Loslassen für die Naturwissenschaften
Können eckige Würfel rollen? Und brauchen Kerzen Sauerstoff? Das erfahren Kinder durch die "MINIPHÄNOMEMENTA in Bayern" an 52 Experimentierstationen, die für mindestens zwei Wochen im ganzen Schulhaus aufgebaut werden. Sie sollen Kinder dazu bringen, sich mit den Phänomenen der Natur auseinanderzusetzen - ganz ohne Erwachsene. Aber was ist dann die Rolle der Lehrer? Das erklärt Prof. Dr. Lutz Fiesser, der am Institut für Physik und ihrer Didaktik der Universität Flensburg die "MINIPHÄNOMENTA" konzipiert hat.
bbw: Herr Prof. Fiesser, die Idee der MINIPHÄNOMENTA ist schon etwas älter: Vor 30 Jahren haben Sie angefangen, naturwissenschaftliche Phänomene durch Experimentierstationen Kindern zugänglich zu machen - waren Sie damit sofort erfolgreich?
Fiesser: Ja und nein. In Science Centern haben wir angefangen, Experimentierstationen auszustellen. Nur, die Science Center haben einen entscheidenden Nachteil: Die Besucher haben viel zu wenig Zeit. Die Kinder und Jugendlichen werden erst mal von der Fülle der Angebote überfordert - und letztlich ist das dann nur wie der Besuch eines Vergnügungsparks. Wir mussten feststellen, dass diese Science Center tatsächlich wenig bewirken.
Das klingt nicht so motivierend - wie sind Sie dann weiter vorgegangen?
Wir sind auf das Naheliegendste gekommen: die Schule. Sie ist in unserer Gesellschaft die Institution, die Bildung vermitteln soll. Nur, den Lehrern können wir das nicht zusätzlich aufdrücken, die leiden eh schon unter der Stofffülle. Aber wir sind in die Freiräume gegangen, die die Schule bietet.
Sie sprechen die Lehrer an: Wie machen sie sich denn in diesem Konzept?
Für die MINIPHÄNOMENTA brauchen sie eine spezielle Fortbildung. Lehrer sind es überhaupt nicht gewohnt, dass in so einer offenen Form mit Schülern umgegangen wird. Das zeigen die Ergebnisse einer Dissertation aus Schleswig-Holstein: Untersucht wurde, wie Kinder mit Experimentiermaterial umgehen, wenn man es vor sie auf den Tisch legt. Die, die keine MINIPHÄNOMENTA hatten, suchten den Blick der Lehrerin und haben auf das Arbeitsblatt gewartet. Das Ergebnis war so eindeutig, da sind wir richtig erschrocken. In einer Schule, in der die MINIPHÄNOMENTA war, war das Ergebnis grundlegend anders. Die Kinder erinnern sich an die Freude, die das gemeinsame Experimentieren gemacht hat. Sie probieren in kleinen Gruppen aus - diese Kinder wissen: Jetzt muss ich mir meine eigene Frage suchen. Und die Lehrerin ist ihnen total egal.
Wo liegen denn die Probleme für die Lehrer?
Den Lehrern fällt es schwer, los zu lassen, das kollidiert mit der üblichen Lehrerrolle: Lehrer sollen Alleswisser sein. Diese Rolle haben Lehrer aber bei der MINIPHÄNOMENTA nicht. In den Fortbildungen machen wir ihnen klar, dass sie nicht alles wissen und die Stationen nicht erklären können - das ist manchmal nicht so schön - aber sie das ja auch nicht müssen, da sie sonst den Schülern die Chance nehmen, selbst als Forscher aufzutreten. Jede Erklärung den Kindern gegenüber ist kontraproduktiv.
Hat die MINIPHÄNOMENTA denn auch einen Einfluss auf den Unterricht?
In der Tat. Wenn die Lehrer diese Selbstbildungskraft von Kindern erleben, und zwar ohne, dass sie von Lehrern motiviert werden, wird Lernwille erkennbar, der auch den Unterricht verändert. Wir haben festgestellt, dass Lehrer auch durchaus stören können, insbesondere, wenn sie nachfragen oder erklären. Häufig wird dadurch das individuelle Nachdenken der Kinder unterbrochen. Aber wenn sie feststellen: Wow, die Kinder forschen ganz selbstständig und mit hoher Intensität über Wochen und Monate hinweg, bis zum großen "Achja!" können sich neue Unterrichtsformen entwickeln. In unseren Evaluationen stellen wir fest, dass bei den Lehrern auch eine Änderung des Selbstkonzepts zustande kommt, sie finden plötzlich Naturwissenschaften und Technik interessanter.
Wer die MINI an der Schule hatte, hat also automatisch Vorteile?
Naja, diese signifikante Einstellungsänderung der Schüler zu Experimenten gibt es nur dann, wenn der Umgang mit den Stationen dauerhaft war. Ein Besuch bringt wenig. Aber 14 Tage, dachten wir, müssten doch eigentlich etwas bewirken. Jetzt wissen wir: Die Schüler erinnern sich nach einem Jahr noch, welche Stationen in der Schule standen - und das ist ja schon etwas. Der eigentliche Forschungsprozess entwickelt sich aber erst im Verlauf von Monaten. Mittlerweile waren wir seit 2002 an mehr als 4000 Schulen. Wir konnten nachweisen: Die Einstellungsänderung funktioniert - und zwar bis in die Sekundarstufe hinein. Siebtklässler stellen andere Fragen, schauen andere Fernsehsendungen, sie interessieren sich für Naturwissenschaft und Technik, wenn sie eine MINIPHÄNOMENTA an ihrer Schule hatten.
Für die Station "Auftriebskörper" braucht man ein Becken oder eine große Schüssel. In diese wird Wasser gefüllt. Wer jetzt unterschiedliche Gegenstände ins Wasser gibt, stellt fest: Sie schwimmen oder gehen unter. So lernen Kinder u.a., was für eine Rolle der Schwerpunkt oder die Größe von Gegenständen spielen und sie erfahren Auftrieb und Verdrängung.